Dorfschaft

noch kort vertellt:

Brandts Mudder, hol över!
Urgroßmutter war für das Übersetzen über die Stecknitz zuständig  

Von Helga Dresow

Wenn man sich zu Fuß oder mit dem Fahrrad durch Göldenitz Richtung Hudeberg (heutige Kanalstraße) begibt, führt nach dem letzten Haus auf der rechten Seite ein Feldweg entlang. Am Ende des Weges – man kann schon Hollenbek sehen – stand bis in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts am Ufer der Stecknitz ein strohgedecktes Haus. In diesem Haus wohnte meine Urgroßmutter, Elisabeth Brandt, mit ihrem Mann und Sohn Wilhelm.

Meine Urgroßmutter hatte dort eine Aufgabe, von der sie später oft erzählte: Viele Männer aus den Dörfern Göldenitz und Niendorf arbeiteten auf dem Gut Kulpin, welches zu der Zeit noch viel größer war als heute. Die Arbeiter gingen am frühen Morgen zu Hause los, sammelten sich unterwegs und erreichten gegen fünf Uhr die Stecknitz. Hier musste man hinüber, um dann in Hollenbek den steilen Weg durch den Wald nach Kulpin zu schaffen. Also schnell zur Kate und rufen: „Brandts Mudder, hol över!“ Mit Muskelkraft setzte meine Urgroßmutter die Arbeiter dann im Ruderboot über die Stecknitz. Und weil nicht alle in ein Boot passten, mehrmals. Morgens  hin und abends zurück.

Nach dem Kanalbau im Jahr 1900 wurde die Kate abgerissen und die Steine wurden zur Befestigung des Weges zum Kanal in das alte Stecknitzbett geschüttet. Viel später bin ich häufig mit dem Fahrrad diesen Weg gefahren. Dort traf ich oft Herrn Teuber, den späteren Besitzer des Grundstücks. Er klagte über die vielen Ziegelsteine im Boden, er wollte doch Spargel anbauen. Als ich ihm den Grund für die vielen Ziegelsteine im Boden erzählte, wurde er hellhörig und meinte: „Da hab ich ja ein Stück Geschichte gekauft.“

Brandts Mutter hat sich nach dem Abriss der Kate ein kleines Haus in Sierksrade gekauft, in dem sie 1938 mit 82 Jahren gestorben ist. Mit Wilhelm haben wir noch lange gemeinsam in diesem Haus gelebt. Er hat viel von seiner Kindheit an der Stecknitz erzählt: dass nur selten ein Freund zu Besuch kam und von dem langen, unheimlichen  Schulweg nach Göldenitz, den er immer alleine gehen musste. Oder vom Fischreichtum der Stecknitz. Er hatte mit der Forke viele Hechte gefangen. Wenn sie in der Sonne standen, konnte er sie hochwerfen. Wilhelm starb im Jahr 1948.

Heute weiß vermutlich kein Göldenitzer mehr, was sich vor fast 150 Jahren an der Stecknitz abspielte. Man kann aber immer noch Ziegelsteine von der Kate am alten Uferweg finden.  

Mudder Brandt setzte die Arbeiter im Ruderboot über die Stecknitz

Meine Kindheit und Jugend in Berkenthin

Von Hannelore Müller-Scherz (geb. Wordell)

Beim Aufräumen meines Schreibtisches fielen mir in diesem Sommer die beiden alten Fotografien aus Berkenthin wieder in die Hände, und ich versuchte, diese aus dem Gedächtnis einzuordnen. Auf beiden Fotos ist jeweils eine Mühle zu erkennen. Es handelt sich wohl um die Mühle von Rohwer in Klein Berkenthin. Die eine Aufnahme zeigt im Vordergrund die Alte Meierei an der Kreuzung Ratzeburger Straße/Lübecker Straße sowie die Kanalniederung. Die andere, im Winter aufgenommene Aufnahme, muss wohl auf der Höhe der Gaststätte Erdmann in der Oldesloer Straße (jetzt „Landhaus“) in Blickrichtung Ratzeburg entstanden sein. Die Aufnahmen stammen aus dem Nachlass meines Vaters, Dr. Hasso Wordell. 

Als Vertriebene kamen meine Eltern und ich 1945 aus Mecklenburg in Berkenthin an. Unsere erste Einquartierung fand in der Bahnhofstraße bei Bruno Heinemann, dem Schwiegervater von Heinz Eckmann, statt. Ich erinnere mich noch an die Pferdedecken vor den Fenstern, die im Winter die Kälte abhielten. Eingeschult wurde ich 1946. Unsere Klassenräume befanden sich damals im Pastorat. 

Als Arzt fand mein Vater schnell Anschluss in Berkenthin. Er war nebenher Heimarzt im damaligen Kreispflegeheim in der Meisterstraße und hatte seine Arztpraxis im alten Postgebäude an der Oldesloer Straße/Ecke Turnierweg. Heute befindet sich darin ein Imbiss.  

Zu den Patienten in der Umgebung fuhr mein Vater mit seinem eigenen Auto, damals eine Besonderheit, da nur wenige ein Auto besaßen. Als junges Mädchen hatte ich mit dem Auto meine ersten heimlichen Übungsstunden auf dem alten Turnierplatz hinter dem Bahndamm (heute Turnierkoppel). 

Konfirmiert wurde ich in Berkenthin bei Pastor Wallroth. Mit den Wallroth-Kindern hatte ich einen sehr innigen Kontakt. Bis heute bin ich mit Carl Friedrich Wallroth befreundet. 

Aus meiner Jugendzeit stammt auch meine Zeichnung von Groß und Klein Berkenthin, die die geschichtlichen Zusammenhänge verdeutlichen soll – mit den Raubrittern von  Parkentin, der Stecknitz, der Kirche mit Kirchenglocke, dem Bartelsbusch…

 

Das Bild zeigt die Kreuzung Ratzeburger Straße/Lübecker Straße in Berkenthin – leider ohne Datum.
In der Oldesloer Straße – Höhe des ehemaligen Gasthofes Erdmann – mit Blickrichtung Ratzeburg
Mit 17 Jahren malte ich das Bild von Groß und Klein Berken­thin

Die Autorin

Hannelore Müller-Scherz (geb. Wordell) ist in Berkenthin aufgewachsen, besuchte hier die Grundschule, später die Lauenburgischen Gelehrtenschule in Ratzeburg. Es folgte ein Volontariat bei der Nachrichtenagentur Reuters, anschließend arbeitete sie als Redakteurin: bei den Lübecker Nachrichten, bei Gruner und Jahr, als freie Autorin für die Cosmopolitan und beim Rundfunk. Außerdem sind von Hannelore Müller-Scherz zahlreiche Kinder-(Sach-)bücher erschienen.  Sie war mit Fritz Müller-Scherz ( †
2015) – Drehbuchautor bei Rainer-Werner Faßbinder und Autor von „Der Untergang der Pamir“ – verheiratet, hat einen Sohn (Julian),  zwei Enkel (Lennart und Melvin) und lebt in Bleckede an der Elbe.

 

Erinnerungen an die Arbeit im Amt Berkenthin in den 70er Jahren
von Gerd Neugebauer

Af den 1. August 1968 heff ik bi dat Amt Sövenbööhm in Kasdörp lernt. To’n 1. April 1970 geev dat een Kreis- un Ämterreform. Sövenbööhm wörr oplöst. De Angestellten un Beamten kunnen sik utsöken, of se vun de Ämter Sandesneben oder Berkenthin övernahmen warrn wullen. De Chef in Berkenthin weer Heinrich Bars. He weer inverstahn, miene Kollegin Hannelore un mi to övernehmen. Hannelore, as vertellt wörr, aver bloots wenn se ehr elektrische Schrievmaschien mitkregen wörr. Sonn’n Ding harrn se in Berkenthin to de Tiet noch nich. Dat stimmt würklich. Ik glööv aver, dat de Berkenthiner uns beden ok ahn den Apparatismus nahmen harrn. Uns eersten Arbeitsdag weer en Mittwoch. Hannelore un ik hebbt uns bi de Meierie drapen. Wi wullen tosamen bi uns niege Arbeitsstell ankamen. Se mit ehren VW-Käfer uni k mit mienen Kreidler-Florett. Düssen Dag is ok uns Margret anfungen. An’n 1. April 1970 weer dat Amt Berkenthin noch in de olle School bi de Karkunnerbröcht (s.a. Amt Berkenthin).

To de Tiet hebbt hier bloots acht Lüüd arbeit: Heinrich Bars, Harry Prill, Barbara Bars, Hanna Haake, Hannelore Bloch, Margret Ziebe un de beiden Lehrlinge Walter Frank un ick, Gerd Neugebauer. Kurt Sperling weer noch bi de Soldaten. Familie Bars hett denn bet to letzt noch twee anner Kollegen mitbröcht. Tobby un Lauscher. Keen Minschen. Nee, dat weern twee Zwergpudel. Ik kann mi erinnern, dat to een Konfirmatschion de Paster W. een Schild an de Döör vun’n Karkhoff hängt hett: „Wieviel Geld hast Du zu Deiner Konfirmation bekommen  und wie viel davon gibst Du der Kirche ab? “

 

To’n Middageten sünd dree oder veer vun uns över de Hochtietsbrüüch na Meier’s Gasthoff gahn. Richard Meier weer domaals Bürgermeister. För uns hett dat Eeten an’n Anfang dree Mark kost. Dat Eeten weer to de Tiet al goot bürgerlich un hett genau so smeckt, as nu ok noch ümmer! Ik kann mi erinnern, dat an de Brüüch en Fabrikschild dor op henwiest hett, dat se 1899 vun een Fabrik in Breslau in Schlesien buut worrn is (s. Brücken) . Över de Brüüch gaht ok hüüt noch de Bruutporen in de Kark. In de 1970-er hett dat woll ok Lüüd geven, de as Wett oder ok bloots so to’n  Vergnögen mit ehr lütten Autos dor över föhrt sünd. Ik bün nie dor bi west. Dat mag aver woll liekers stimmen.

1970 weer de Meierie noch in Gang. De Meester Gutthard hett wunnerboren Kääs maakt. Een Sort in Silver- un de anner in Goldpoppier. Af un an hebbt wi uns vun dor Kääs haalt un denn mit Wiech sien‘n Semmeln wegputzt. Ganz grooten Geneet! De Meierie hebbt se nu Anfang Januar 2019 afreten (s. Dorfschaft – Höker, Betriebe, Firmen). 

Över Sylvester 1978/-79 un noch mal in’n Februar 1979 geev dat de Sneekatastrooph. Ik heff to de Tiet noch in Bliesdörp wahnt bün aver in Berkenthin ünnerwegens west un keem nich mehr na Huus. Is doch schöön, wenn man in Berkenthin beste Frünnen wahnen hett. Ik keem bi ehr ünner. Bi dat tweete Maal schull ik man tomaken, denn dat Groggwater weer graad an’t Kaken! In’n Februar, an’t Enn vun de Katastrooph weer een Hochtiet ansett, un ik de  Standesbeamte. Ik weer aver noch nich na Huus kamen. Also, wat maken? De ganze Kledaasch lehnt. Bloots de Ünnerbüx hett mi hört. De weer intwüschen al en poor Maal utwaschen west! Hüüt hebbt all, de dorbi weern noch veel Vergnögen bi dat Erinnern! 

1980 sünd wi in dat niege Amt „Am Schart“ intraken.  De Buu weer gor nich so eenfach. Dat Huus müss wegen dat Moor in en Betonwann inlaten warrn. Dat hett toeerst nich klappt. So veel ik weet, is een Firma dorbi pleite gahn. Eerst de tweete hett dat henkregen. So üm 1980 fung dat mit dat Computern an. Aver nich so eenfach as hüüt. Nee, dat weer noch ornlich wat swoor. Müss extra een Zimmer mit Klimaanlaag inricht warrn. 

1981 hett sik Heinrich Bars bi’t Schüttenfest de Achillessehn reten. An’n Maandag, to’n Enn vun dat Fest, hebbt de Bröder em denn mit Tamm Tamm vun de Füerwehrkapell üm dat olle Schüttenhuus bi Willi Erdmann dragen. Hüüt sünd de Lüüd vun den 1. April 1970 al in Rente oder doot. So is Schüttenoberst Heinrich Bars bi’t Schüttenfest in Nusse doot ümfallen. Wat sik sünst noch allens bet hüüt ännert hett, köönt nu anner Lüüd vertellen!

Gerd Neugebauer

Gerd Neugebauer

Der Autor Gerd Neugebauer, Jahrgang 1952,  lebt in Berkenthin und ist bekannt als Verfasser von kleinen  platt- und hochdeutschen Erzählungen und von kleinen Theaterstücken.

Not mach erfinderisch

Helga Dresow erzählt von ihren Erlebnissen in der Nachkriegszeit

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (1945) mangelte es überall an alltäglichen Dingen. Not herrschte vor allem bei den Flüchtlingen, aber auch die Einheimischen hatten großen Bedarf an vielen Sachen. Da kam so manche Hilfsaktion zur rechten Zeit.


Milchtopf aus der Ziegele

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Meldung, dass die Behlendorfer Ziegelei Geschirr aus Ton anfertigen und an die Bevölkerung verkaufen würde. Gleich am nächsten Tag zog eine Gruppe Berkenthiner Frauen los. Eine Nachbarin brachte mir einen schönen Milchtopf mit. Dieser schwere, fast 75 Jahre alte Krug dient mir heute als Blumenvase.


Sandalen aus Göldenitz

Mangel herrschte auch an Schuhen. Walter Meißner, der mit seiner Familie nach der Flucht in Göldenitz eine Heimat fand, wollte die Schuhknappheit mildern, indem er Holzsandalen anfertigte – Pantoffeln gab es bereits bei Familie Strahlendorf in Berkenthin. Für die Sandalen benötigte Herr Meißner Lederriemen, die leider nicht immer beschaffbar waren. Ich selbst habe diese Sandalen ausprobiert, konnte damit auch gehen, aber sie klapperten unheimlich laut. Naja, es war ja auch nur eine Notlösung.


Brautkleider aus Fallschirmseide

In der Groß Weedener Ziegelei hatte die deutsche Wehrmacht Fallschirme gelagert. Nach Kriegsende verschenkten die englischen Besatzer sie. So ging manche Braut in Fallschirmseide in die Ehe. Meine Schwester häkelte aus den aufgelösten Schnüren sogar eine Tischdecke. Eine mühsame Arbeit, denn alle paar Meter musste geknotet werden. Lange hielt die Decke nicht: Die Knoten lösten sich mit der Zeit.


Klassenräume in einer Baracke

Die große Anzahl der Flüchtlingskinder machte es notwendig, einige Räume in den Baracken des RAD-Lagers (Reichsarbeitsdienst) bis in der 1950er Jahre als Klassenzimmer zu nutzen. In zwei Räumen baute eine Flüchtlingsfamilie aus dem Baltikum eine Färberei auf. Diese Idee wurde ein großer Erfolg: Sogar aus den Städten kamen Menschen, um – vor allem alte Wehrmachtskleidung – umfärben zu lassen. Wie lange hier gefärbt wurde, weiß ich heute nicht mehr, aber dass die Kleidung der Kinder plötzlich bunter wurde, ist mir in guter Erinnerung geblieben.


Frau Dresow mit ihren Kindern beim Bestellen des Kleingartens

Kirchenland für Kleingärtner

Natürlich half auch die Kirche. Sie stellte Leuten, die keine Gärten hatten, ihr Kirchenland zwischen Groß Berkenthin und Hollenbek als Kleingärten zur Verfügung. „Radio Petersen“ wurde die Aufgabe übertragen, das Land in Parzellen aufzuteilen. Außerdem stand Herr Petersen allen mit Rat und Tat zur Seite. Auch wir bekamen auf Anfrage ein Stück Land zugeteilt. Wir säten und pflanzten, um Gemüse und Kartoffeln ernten zu können. Aber leider kamen nachts oft Rehe und Wildschweine, die hier nach Leckerbissen suchten. Für unsere Kinder war das Frühstücken im Garten immer das Wichtigste. Aber da viele Flüchtlinge den Ort im Laufe der Jahre wieder verließen, wurden die Kleingärten nach und nach aufgelöst.


Schulspeisung für bedürftige Kinder

Große Not linderte auch die Schulspeisung für bedürftige Kinder. Emmi Frank und Martha Wulf kochten die Suppen in der kleinen Schulgarage in Groß Berkenthin. Ein großer Waschkessel und Wasser waren vorhanden, Milchpulver wurde geliefert. In der großen Pause war Essenausgabe. Am liebsten aßen die Kinder Schokoladensuppe. Leider ließ es sich manchmal nicht vermeiden, dass die Suppe im Waschkessel anbrannte, aber selbst dann schmeckte sie allen noch vorzüglich.


Die Rübenernte

Dann war da noch der strenge Winter 1946. Das Gut Groß Weeden schaffte es nicht, vor dem Frost die letzten Zuckerrüben zu ernten. Kurz vor Weihnachten gab der Betrieb das Feld für die notleidende Bevölkerung zur Ernte frei. Wohl denen, die einen großen Kessel besaßen. Der Waschkessel in der Schule war ständig in Betrieb: mal für die Wäsche, dann wieder für die Rüben. Unser Rübensirup war rechtzeitig zum Fest fertig. Er schmeckte etwas streng, aber auch herrlich süß. Manche haben den Rübensaft mit Milch oder anderen geheimen Zutaten verfeinert. Man musste eben auch hierbei erfinderisch sein.

Adlige, Diplomaten, Künstler…

Menschen, die mir besonders in Erinnerung geblieben sind

von Helga Dresow


Bildpostkarte mit einem Foto des ehemaligen Kronprinzen Wilhelm mit seinen beiden ältesten Enkeltöchtern Felizitas und Christa, 1941

Die preußischen Prinzessinnen

Am 1. April 1945 begann mein Schulpraktikum in der zweiklassigen Dorfschule in Düchelsdorf. Immer noch gab es täglich Fliegeralarm. Es wurden laufend neue Flüchtlingskinder in der Schule angemeldet, so dass kurzfristig eine dritte Klasse eingerichtet werden musste. Für diese Kinder gab es weder Papier noch Schreibmaterial. Die Groß-Weedener Kinder hatten den längsten Schulweg. Unter ihnen waren auch die Prinzessinnen Felizitas und Christa von Preußen, die mit ihrer Mutter und Oma nach der Flucht aus Schlesien auf dem Gut Zuflucht fanden. Ihr Ziel war die Hohenzollernburg, aber dafür brauchte man eine Genehmigung der amerikanischen Besatzer in Baden-Württemberg. Die kleinen Dorfkinder staunten, als sie hörten, dass zwei Prinzessinnen in ihre Klasse kämen. Sie hatten ja noch nie eine leibhaftige Prinzessin gesehen. Doch ihre Enttäuschung war groß, als sie sahen, dass die gar keine Krone trugen. Wie lange die Familie noch in Groß-Weeden blieb, weiß ich nicht. Am 2. Mai zogen die Engländer ins Dorf ein und damit fiel erst einmal der Unterricht aus. Angeblich sollen die beiden Mädchen im Herbst 1945 noch einmal die Schule in Düchelsdorf besucht haben. 1946 kam ich als dritte Lehrkraft an die Volksschule nach Groß-Berkenthin.

Herrenhaus Gr. Weeden Quelle: G. Weinberger

Die Familie von Lambsdorff

Die zwei Klassenräume waren total überfüllt, Unterricht wurde in mehreren Schichten erteilt. In meinem zweiten Schuljahr waren 72 Kinder. Sie wurden aufgeteilt in eine Mädchen- und eine Jungenklasse. Die fünf Jungen aus Kählstorf und Hans-Otto Meier – Zwillingsbruder von Ricarda – mussten in die Mädchenklasse, weil die Jungenklasse bereits zu groß war. Das war natürlich deprimierend für die Jungen. Noch heute ist Hans-Otto über die damalige Lösung unzufrieden. Unzufrieden war auch der damalige Flüchtling Otto Graf Lambsdorff. Er wohnte mit Mutter und Bruder Hagen, der zehn Jahre jünger war als er, beim Kaufmann Bahnsen im Hinterhaus. Darüber war er schon erbost. Er schrieb einen Zettel und wollte diesen – nach Aussage eines Bekannten – an die Vordertür heften. Der Text lautete: „Lieferanten und Grafen den Hintereingang benutzen!“ Seine Schwester Elgin war bei Bekannten in Hamburg und der Vater in Köln untergekommen. Ottos Wunsch war, dass sein kleiner Bruder Hagen etwas Besonderes werden sollte. Er wollte mit den Lehrern sprechen, ging also mitten im Unterricht in die Klasse seines Bruders. Er war sehr dominant mit seiner lauten Stimme, als er seine Beschwerde vorbrachte: „Hier in der Schule wird zu wenig Wissen vermittelt. Das muss sich ändern!“ Die damalige Lehrerin, Fräulein Jansen, war ärgerlich und verwies ihn der Klasse. Die Lambsdorffs haben Berkenthin bald verlassen. Otto wurde später Bundesminister, Hagen ist in den Diplomatischen Dienst eingetreten, sein Sohn Alexander war lange Mitglied im Europaparlament und sitzt heute im Bundestag.


Jägerhaus und Fasanerie 1901, das Gaulsche Haus

 

August Gaul – der „Erfinder“ der Tierplastik

Wer kennt noch die Namen Gaul oder Dinklage? August Gaul war in der Kaiserzeit ein berühmter Berliner Bildhauer und freischaffender Künstler. Er hatte in der Kirchenstraße 14 (Groß-Berkenthin) eine Zweitwohnung mit Blick auf den Elbe-Lübeck-Kanal. Vermutlich war er, als Anhänger von Kaiser Wilhelm II., in dessen Beisein der Kanal im Jahr 1900 eingeweiht wurde, auf Berkenthin aufmerksam geworden. August Gaul war befreundet mit Gustav Dohrendorf senior.  Dieser hatte zwei sehr schöne Plastiken von ihm, die er stets hütete. Sie standen auf dem hohen, weißen Kachelofen und durften nicht berührt werden. Gauls Tierplastiken stehen in vielen großen deutschen Museen. Sein Sohn heiratete eine Berkenthinerin. Ihre Nachkommen leben noch heute in Klein-Berkenthin.

Klara Gaul, Wwe. wird noch im Adressbuch 1932 genannt.


Erna Dinklage

Erna Dinklage war eine fleißige Malerin. Sie wohnte mit ihrem Bruder zusammen und versuchte durch den Verkauf ihrer Bilder beide zu ernähren. In vielen Bauernhäusern hing früher ein Bild von ihr. Ich sah Frau Dinklage oft mit Klappstuhl und Strohtasche an der Schule vorbeigehen. Sie suchte immer einen ruhigen Platz für ihre Arbeit. Einige ihrer Werke können im Lenbachhaus und in der Pinakothek der Moderne in München bewundert werden. Im Dorf hieß sie damals nur die „Maltante“. Ich hatte vor Jahren das Glück, eines ihrer Berkenthiner Bilder auf einem Flohmarkt zu erhandeln.


Ecke Ratzeburger / Lübecker Straße in Groß Berkenthin

Hannes Stoffers

Es gab aber auch Menschen in Berkenthin, die weniger berühmt waren und trotzdem hat man sie nicht vergessen. Ich nenne da den Kleinbauern Hannes Stoffers. Er wohnte in Groß-Berkenthin in einem alten Strohdachhaus (Ratzeburger Str. 4), das mehr als baufällig war. Er hatte keine Familie, lebte völlig zurückgezogen und war ein Eigenbrötler. Er nahm auch keine Hilfe an, obwohl sein Nachbar, Horst Dohrendorf, sich oft um Kontakt zu ihm bemühte. Als das Dach des Hauses einstürzte, lebte Hannes Stoffers bei den Tieren im Stall, denn dort war es warm. Nach seinem Tod verfiel die Kate zu einer Ruine. Aber der Name geriet nicht in Vergessenheit: Als mein Mann Jahre später in der Schule einen Aufsatz mit dem Thema „Ein seltsamer Mensch“ schreiben ließ, berichtete über die Hälfte der Klasse über Hannes Stoffers.


Onkel Roller

Und dann gab es noch den Gemüsehändler Roller, der einen winzigen Stubenladen und eine Wohnstube in der ehemaligen Tischlerei Wolf hatte. Er fuhr mit seinem dreirädrigen Auto zweimal die Woche nach Hamburg zum Großmarkt, holte Ware und verkaufte im Auftrag der Berkenthiner deren Gartenfrüchte. Er war immer freundlich und großzügig, verschenkte auch mal Bananen und Apfelsinen an Bedürftige und Kinder. Herr Roller arbeitete täglich bis ins hohe Alter. Nach seinem Tod waren viele Berkenthiner traurig. Der Laden wurde aufgelöst. Es gibt sicherlich noch mehr unvergessene Namen, aber diese sechs sind mir in besonderer Erinnerung geblieben.