Die ersten Nachkriegsjahre

Pastorat mit Kirche

Der Ort ist überfüllt

Über die dramatischen Ereignisse der letzten Kriegstage bis zur Gesamtkapitulation und die ersten Tage darüber hinaus wurde in dem Kapitel über den Zweiten Weltkrieg ausführlich berichtet. Wenn auch die unmittelbare Sorge um das Überleben mit dem Schweigen der Waffen vorbei war, ist doch die Not der folgenden Zeit nur schwer beschreibbar. 

Berkenthin war äußerlich weitgehend unversehrt geblieben und der Ort kampflos in die Hände der Engländer gefallen war. Jetzt war aber der Ort überfüllt mit Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten und Evakuierten aus den Städten, die alle versorgt werden mussten. Es gab kein Haus, keine Scheune, kein Stallgebäude, das nicht mit heimatlosen Menschen belegt war. Und auch die Säle des Ortes dienten noch lange Zeit als Sammellager. Es liegt auf der Hand, dass diese Einquartierungen nicht immer konfliktfrei verliefen, da sich viele Einheimische dagegen zu wehren versuchten. Dazu kamen die britischen Besatzungssoldaten, die sich ebenfalls in Häuser ein- und die alten Bewohner kurzerhand ausquartieren. 

Auf dem Feld neben dem Bahnhof am westlichen Dorfbewohner befand sich zudem ein Gefangenenlager für deutsche Soldaten, die dort unversorgt auf freiem Feld lagerten bzw. aus Brettern von dem benachbarten Sägewerk Rave einfachste Hütten gebaut hatten. Hinzu kamen die vielen ehemaligen Kriegsgefangenen oder verschleppten Zwangsarbeiter, meist aus osteuropäischen Ländern, die nun in vielen Fällen die Arbeit auf den Höfen verweigerten und auf die Rückreise in ihre Heimat warteten. 

Am 1 Juli 1946, dem Datum einer ersten offiziellen Zählung nach dem Krieg lebten in Berkenthin mit den Ortsteilen Kählstorf und Göldenitz  2.100 Menschen, von denen 1.400 „Zugezogene“ waren. Deutsche und ausländische Kriegsgefangene waren zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr mitgezählt worden. Am schwersten aber drückte die Gemeinde, dass viele junge Männer nicht aus dem Krieg zurückgekommen waren. Nahezu jede Berkenthiner Familie hatte zumindest einen Toten zu beklagen, viele sogar mehrere. Andere bangten noch um ihre angehörigen Soldaten, die sich noch in Kriegsgefangenschaft befanden oder über deren Verbleib man nichts wusste. Mehr zu den Gefallenen hier


Viele suchen Trost im Glauben

Pastor Blunk beschreibt eindrucksvoll die Stimmungslage im Ort in den ersten Wochen und Monaten nach Kriegsende: „ Die Gottesdienste in dieser Zeit sind stark besucht wie seit vielen Jahren nicht mehr. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass ein Großteil der Gottesdienstbesucher auch nichteinheimischen Flüchtlingen und Evakuierten bestand. Die Zahl dieser Gottesdienstbesucher dürfte bis zu 70% betragen haben. Man hat den Eindruck, dass diese aus wirklich innerem Bedürfnis zum Gottesdienst kamen. Es kam vor, dass fremde Gottesdienstbesucher nach dem Gottesdienst zum Pastor kamen und sich für den Trost und Kraft, die ihnen der Gottesdienst gegeben hatte, bedankten. Auch sah man nach dem Gottesdienst Personen, die weinend und betend noch in der Kirche verweilten. Ob unsere Gemeinde durch das schwere Leid, das über unser Volk gekommen war, eine Neubelebung des religiös-christlichen Lebens erfahren hat, kann heute nicht gesagt werden. Doch kann behauptet werden, dass die hiesige Bevölkerung das Leid geduldig trug und sich gegenüber der feindlichen Besatzungsmacht zurückhaltend und würdig verhielt, wobei gesagt werden muss, dass auch die englischen Soldaten unsere Bevölkerung in Ruhe ließen und sich, abgesehen von anfänglichen Diebereien, nicht herausfordernd benommen hatten. 

Ansonsten lasteten natürlich der Druck der Zeit, die Ungewissheit wegen der vielen deutschen Soldaten, die noch nicht heimkehren durften, und die Angst, dass die Russen doch noch einmal in unsere Gegend kommen könnten, schwer auf allen. Dadurch waren die anderen Ereignisse, der Tod Hitlers und der Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft in den Hintergrund getreten.

Die Sorge, dass es im kommenden Winter zur Hungersnot und zu Feuerungsmangel in Deutschland kommen könnte, war allen gemein. Ebenso bewegte die Frage wegen der bisherigen Gefangenen und ausländischen Arbeiter und der Verbleib der vielen Flüchtlinge aus dem Osten die Gemüter stark.

Ergänzend sei dazu angemerkt, dass noch nach Jahren Todesnachrichten von gefallenen Soldaten im Ort ankamen. Der Pastor widmete allen Gefallenen auch nach Kriegsende jeweils eine besondere „Heldenehrung“. Das Schicksal vieler anderer blieb über Jahre hin ungewiss, bis irgendwann dann doch die Todesnachricht bei den Hinterbliebenen z.B. durch heimkehrende Kriegsgefangene oder irgendwelche Hilfsorganisationen übermittelt wurde. So hatte beispielsweise die Witwe des Schlachtermeisters  Herbert Claus Conrad T. aus Klein Berkenthin ab 1946 keine Post mehr von ihrem Mann erhalte, der in russische Kriegsgefangenschaft geraten war. Ein Heimkehrer brachte ihr dann erst 1948 die Nachricht, dass ihr Mann im Lager verstorben war. Andere blieben dauerhaft vermisst und den Angehörigen blieb nur die Ungewissheit.

Im weiteren beklagte der Pastor, dass den Kindern und Jugendlichen der christliche Glaube durch den Krieg und  die nationalsozialistische Herrschaft vollkommen fremd geworden sei.  „Der neue Konfirmandenjahrgang hat überhaupt keinen Religionsunterricht  in der Schule mehr gehabt. Die Kinder haben niemals in der Schule in der Bibel gelesen und nie einen Choral gesungen. Der christliche Glaube ist ihnen (…) völlig fremd. (…) Die englische Besatzungsbehörde hat dagegen der Fortführung des kirchlichen Lebens in der Gemeinde keine Schwierigkeiten bereitet.“

Dass das kirchliche Leben bedingt durch die Schwere der Zeit zumindest zeitweise eine Neubelebung erfuhr, geht aus folgender Notiz hervor: „ Am (…) 30. September 1945 wurde Erntedankgottesdient gefeiert. Der Gottesdienst war sehr stark besucht, dass die Kirche bis auf den letzten Platz besetzt war. Fast 500 Menschen füllten das Gotteshaus. Vor dem Gottesdienst spielte der Berkenthiner Posauemchor, der am 20. September nach zweieinhalbjähriger Pause seine Übungen wiederaufgenommen hatte, auf dem Kirchplatz.“

Zu all den Flüchtlingen und Evakuierten – „man begegnet jetzt im Ort mehr fremden als einheimischen Gesichtern“, so der Pastor – kam im November 1945 noch einmal eine beträchtliche Zahl von Menschen aus den von den Engländern den Russen abgetretenen Dörfern am Schaalsee in den Ort (Barber-Lyaschenko-Abkommen). Wie alle Häuser war auch das Pastorat überfüllt, wo zu der Zeit fünf Flüchtlingsfamilien mit zusammen 20 Personen, darunter 6 Kinder, Zuflucht gefunden hatten.

Noch hegten aber viele Flüchtlinge, zumindest aus den Gebieten westlich der Oder, die Hoffnung, dass sie bald in ihre Heimat zurückkehren könnten. „Die Flüchtlinge glauben, dass der Russe im Februar 1946 sich bis hinter die Oder zurückziehen wird und die von dort stammenden Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren können.“

Auch folgende Nachricht findet sich in den Eintragungen, die das Bild jener ersten Nachkriegszeit ergänzen: „Am 17. Februar 1946 erschien beim Pastor der frühere Leutnant Wutke aus Königsberg und teilte mit, dass es sich bei den am 3. Mai 1945 auf dem neuen Friedhof in Klein Berkenthin beerdigten unbekannten Soldaten mit der Erkennungsnummer „Kriegsmarine 46 Z 16-44“ um den am 13. Dezember 1926 geborenen Oskar F. handelt, der in Gegenwart des genannten Leutnants am 2. Mai 1945 in dem Gehölz bei Groß Weeden längs der Chaussee Sierksrade – Kastorf durch Artilleriebeschuss getötet wurde. Die Erkennungsnummer, die der Leutnant sich notiert hatte, stimmte mit der dem Pastor durch den Sanitätsunteroffizier (…) genannten Nummer überein. In dem Nachlass des Verstorbenen befand sich außer einem goldenen Zigarettenetui mit Widmung – wahrscheinlich von seinen Eltern –  ein Postsparbuch mit 100 RM. (…) Der Leutnant hat bereits versucht, mit den Eltern in Verbindung zu treten, doch sind seine diesbezüglichen Briefe bisher unbeantwortet geblieben. Sollte auch weiterhin keine Antwort erfolgen, so will Leutnant Wutke das Geld für die Pflege des Grabes übersenden.“


Care-Pakete und kalte Winter

Später trafen dann die ersten Hilfspakete aus den USA und anderen Ländern auch in Berkenthin ein. Dazu heißt es wieder in der Kirchenchronik: „Nachdem die Kirchengemeinde Berkenthin im Herbst 1946 durch das kirchliche Hilfswerk Ratzeburg eine Kleiderspende aus Amerika bekommen hatte, welche an Frauen und Kinder von Flüchtlingen verteilt wurden, erhielt sie durch die selbe Stelle am 25. Januar 1947 zwei Kartons geröstete Weizenbrote (ca. 57 Brote), eine Spender schwedischer Christen, die ebenfalls an Geflüchtete und Evakuierte verteilt wurde. (…) Die verteilten Sachen lösten viel Freude und Dankbarkeit aus, wenngleich sie bei dem großen Mangel an allem Notwendigen nur eine bescheidene Hilfe darstellen. Am größten ist der Mangel an Schuhen und Strümpfen. Manche Konfirmanden kommen barfuß oder mit höchst unzulänglichem Fußzeug zum Unterricht.“

Die Not wurde noch verstärkt durch einen extrem kalten Winter und extreme Trockenheit im Sommer. „Das neue Jahr 1947 beginnt mit starker anhaltender Kälte. Die Schule wird wegen Mangel an Feuerung geschlossen (…) so kalt und andauernd die Kälte gewesen war, so heiß und langanhaltend war der Sommer mit seiner monatelangen großen Hitze ohne Regenfälle. Die lange Trockenheit wirkt sich ungünstig auf die Ernte aus. Die Weiden sind kahl, das Futter wird knapp. Aber die Hauptursache der geringen Ernte ist nicht der heiße Sommer, sondern der lange und kalte Winter, bei dem manches Korn, vor allem Weizen, auswinterte. Im Herbst sieht man täglich viele Menschen aus den Städten, die auf den abgeernteten Feldern Kartoffeln gesammelt haben. Auch auf dem Lande ist für die Nicht-Selbstversorger und die, die keine „Beziehungen“ haben und nichts eintauschen können, die Ernährungslage recht trübe, wenn auch nicht so trostlos wie in den Städten. In allen Schulen der Gemeinde ist eine Schulspeisung für die Kinder, die Untergewicht oder nachweislich einen schlechten Ernährungszustand haben, eingerichtet worden.“

Die Britische Militärverwaltung

Nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945  etablierten die Alliierten in Deutschland eine Militärregierung. Die Provinz Schleswig-Holstein unter der Zuständigkeit des Brigadiers Gail Patrick Henderson wurde Teil der britischen Besatzungszone; Kreisgouverneur im Herzogtum Lauenburg war Major Clarke, der zunächst sein Hauptquartier in Buchholz am Ratzeburger See und schließlich in Ratzeburg aufschlug. Alle Nationalsozialisten im Kreis, den Ämtern und den Gemeinden wurden aus ihren Positionen entfernt, aber grundsätzlich blieb die deutsche Verwaltungsstruktur zunächst erhalten, wobei aber alle Stellen der Weisung der britischen Militärbehörden unterstanden. Neu war aber die Einteilung des Kreises in neun Bezirksbürgermeisterämter. Die Bezirksbürgermeister sollten die Aufgabe der alten Ämter ersetzen und eine Mittlerfunktion zwischen dem Landrat, der direkt dem Kreisgouverneur unterstand, und den Gemeinden übernehmen. Berkenthin gehörte dem Bezirksbürgermeisteramt Ratzeburg an, zu dem insgesamt 26 Gemeinden zählten. Alleine schon wegen der Größe dieser Verwaltungsbezirke bewährte sich diese Einteilung, die es in dieser Form im Lauenburgischen nie gegeben hatte, nicht. Sie wurde schließlich 1947 zugunsten der alten Ämtereinteilung wieder aufgegeben.


Die Ortskommandantur

In Berkenthin ging mit Kriegsende die vollziehende Gewalt auf die britische Ortskommandantur über. Führer der britischen Besatzungseinheit „Y 72“ war ein Captain Hertalet. Dieser bezog mit seinem Stab die unteren Räume des Anwesens von Gutstav Dohrendorf. Später verließ diese Einheit aber Berkenthin und wurde durch eine andere ersetzt. Der amtierende Bürgermeister Heinrich Schwarz blieb bis zu seiner Ablösung wenige Tage später zunächst im Amt. Mehr dazu lesen Sie hier. Seine Aufgabe bestand vor allem darin, zusammen mit dem Ortskommandanten die vom Dolmetscher übersetzten Tagesbefehle zu verkünden. Dazu mussten sich die Bewohner der einzelnen Ortsteile auf einem freien Platz versammeln, bevor die Anordnungen bekannt gemacht wurden. Schwarz erinnert sich anlässlich einer solchen Situation an die anfänglich häufigen Diebstähle durch englische Soldaten, die aber später von der Kommandantur unter Androhung schwerer Strafen unterbunden wurden. So kam eines Tages der Altbauer Joachim Dohrendorf in Kählstorf zu einer so angeordneten Zusammenkunft, als ca. 30 m vor der Sammelstelle ein englischer Soldat auf ihn zukam und ihm, ohne etwas zu sagen, seine goldene Uhr aus der Westentasche zog. Heinrich Schwarz zeigte dem Kommandanten den Vorgang an. Dieser ließ ihm dann durch den Dolmetscher mit einem Achselzucken sagen, „das gehöre nun mal zum Krieg“. Und Joachim Dohrendorf war seine Uhr los.


Gesetze, Verordnungen, Bekanntmachungen

Sichtet man die Akten im Berkenthiner Amtsarchiv, wird deutlich, dass die Militärregierung die deutschen Behörden bis hin zu den Gemeinden mit einer wahren Flut  von Gesetzen, Verordnungen und Bekanntmachungen eindeckte, mit denen man versuchte, die anstehenden Probleme in den Griff zu bekommen. Die Not war groß und die Lösung vieler Probleme duldete keinen Aufschub, alles musste neu geregelt werden. Eine Vielzahl von Anordnungen betraf die Unterbringung der vielen Flüchtlinge. Die Zahl der Einwohner hatte sich gegenüber der Vorkriegszeit, wie oben ausgeführt, mehr als verdoppelt, ohne dass in der Zeit neuer Wohnraum dazugekommen wäre. Die Unterbringung der vielen Menschen oblag dem Bürgermeister, Angesicht der eigenen Not waren die Heimatvertriebenen nicht überall willkommen und nicht selten sahen sich die Bürgermeister schärfsten Anfeindungen gegenüber, wie der Blick in die Akten dieser Zeit zeigt. 

Lebensmittelkarte

Vergrößert wurde der Wohnraummangel noch durch die Einquartierungen durch das britische Militär,  das kurzerhand ganze Häuser für ihre Zwecke räumen ließ. Andere Anordnungen betrafen die Abgabe von Waffen, die Verteilung von Lebensmitteln, die noch über Jahre über Lebensmittelkarten geregelt wurde, die Verteilung von Brennmaterial, die Verhinderung von Seuchen und Krankheiten, die Requirierung von Fahrzeugen u.v.a.m. Ein großes Thema war auch die Erfassung der Flüchtlinge sowie der Wehrmachtssoldaten sowie der Erfassung von „politisch belasteten“ Personen. Ein besonderes Kapitel war die Suche nach vermissten Personen bzw. die Suche nach den Angehörigen auf der Flucht von ihren Eltern getrennter Kinder. Dieser Aufgabe nahm sich frühzeitig der Suchdienst des  Deutschen Roten Kreuzes an, deren Suchanfragen sowohl ständig im Radio zu hören waren, aber auch bis in die 50er Jahre immer wieder bei der jeweiligen Bürgermeisterei einliefen.

Ca. zwei Wochen nach Eintreffen der Briten wurde Bürgermeister Heinrich Schwarz dann doch abgelöst. Er hatte das Amt 1943 von seinem Vorgänger Hugo Rath übernommen, der zum Wehrdienst eingezogen worden war. Er gehörte aber nicht der NSDAP an und hatte sich dieses bei seiner Amtsübernahme von höherer Stelle bestätigen lassen. Deshalb galt er als unbelastet. Zwei Wochen später wurde er dann aber doch unter einem anderen Vorwand entlassen. Er selbst schrieb darüber in seinen Erinnerungen:

„Nachdem ich ca. 14 Tage unter der Herrschaft der Engländer Bürgermeister gewesen war, kam der Sohn meiner Schwester aus Lübeck, der sich heimlich von einem Gefangenentransport in Mecklenburg von den Russen abgesetzt hatte und glücklich bei seinen Eltern in Lübeck gelandet war. Er hatte sich gleich nach seiner Ankunft in Lübeck Entlassungspapiere beschafft und glaubte, sich überall aufhalten zu dürfen. Ein allgemeiner Befehl besagte aber, dass keiner sich mehr als 5 km außerhalb seines Wohnortes aufhalten dürfte. Dieser Befehl war mir bekannt und ich versuchte meinen Neffen nach Lübeck abzuschieben. Da es hier in Berkenthin bekanntlich mehr zu essen gab als in Lübeck, verschob er die Rückfahrt von einem Tag auf den anderen, bis er eines Morgens von den Engländern verhaftet wurde. Meine Vorstellung, dass er ordnungsgemäße Entlassungspapiere habe, wurde nicht beachtet. Diese waren ihm auch inzwischen abgenommen worden. Kurz nach Mittag wurde ich auch verhaftet und zusammen mit meinem Neffen nach Ratzeburg gebracht. Ich wurde dort beschuldigt, einen deutschen Soldaten versteckt zu haben. Ich erwiderte dem Gouverneur, die Entlassungspapiere seien vom Kommandeur in Berkenthin beschlagnahmt worden. Ein Blick des Gouverneurs und der Ortskommandant von Berkenthin zog seine Brieftasche und legte die Entlassungspapiere auf den Tisch. Mit wurde bedeutet, ich könne gehen. Draußen auf dem Flur sagte mir der Dolmetscher, ich sei nicht mehr Bürgermeister, ich könne aber mit zurückfahren. Mein Neffe erhielt den Bescheid: Sie kommen nach Berkenthin ins Kriegsgefangenenlager. Man brachte mich nach Hause und kurz vor dem Gefangenenlager gegenüber dem Sägewerk Rave gab man meinem Neffen seine Entlassungspapiere zurück und ließ ihn frei. Es stelle sich heraus, dass das ganze Manöver nur ein Trick und Mittel zum Zweck war. Der Ortskommandant hatte hier in Berkenthin einen Flüchtling gefunden, mit dem er vor dem Krieg auf einem Woermannschiff (Woermann war ein Hamburger Reeder) zur See gefahren war. Um nun seinem alten Kameraden einen Dienst zu erweisen, suchte man nach einem Grund, mich als Bürgermeister loszuwerden und Herrn Dinklage für mich zu bestellen.“

„Beziehungen“

Wie auch immer die Entlassung Heinrich Schwarz´ zu bewerten ist, nach ihm wurde Max Dinklage zum provisorischen Bürgermeister ernannt. Max Dinklage wohnte mit seiner Schwester und seiner bereits über 80jährigen Mutter im ersten Stock des Hauses von Gustav Dohrendorf in der Ratzeburger Straße, kam aber ursprünglich aus Berlin.  Er stammte aus einer wohlhabenden Kaufmanns-  und Diplomatenfamilie. Sein Vater war der Kaufmann Max Julius Dinklage gewesen,  der viele Jahre in Westafrika verbracht hatte, dort Teilhaber einer Handelsfirma gewesen war und bis 1917 sogar als Geschäftsträger des Deutschen Reiches in Liberia funkgiert hatte. In dieser Zeit hatte er sich in Botanikerkreisen zudem einen Namen als Kenner der dortigen Pflanzenwelt gemacht. Am Ende des Ersten Weltkrieges wurde er dann enteignet und musste er dann nach Deutschland zurückkehren.  

Der Sohn Max Dinklage war nach eigenem Bekunden in seinem Elternhaus mit liberalen und internationalen Umgangsformen vertraut gemacht worden, hatte selbst einige Auslandsaufenthalte hinter sich und beherrschte deshalb von Jugend an die englische Sprache. Während seiner Berliner Zeit war er als Schriftsteller, Sänger und Rezitator und sogar als Fachdozent für Westafrika tätig gewesen. Er trat frühzeitig in die NSDAP ein, was ihm später zum Verhängnis werden sollte. Allerdings sei er nur Parteimitglied geworden, wie er immer wieder behauptete, um die Entschädigungsforderungen seines Vaters realisieren zu können. Tatsächlich habe die NSDAP in ihrem Programm die Entschädigung der in den ehemaligen Kolonien Enteigneten angekündigt. Im März 1944 zog er dann als inzwischen Kriegsversehrter und in Berlin Ausgebombter mit seiner Familie nach Berkenthin. Der Kontakt mit der britischen Besatzungsmacht  ergab sich, als die Einheit „Y 72“ der British Army ihr Hauptquartier im Erdgeschoss des Hauses von Gustav Dohrendorf verlegte. Während eine andere Flüchtlingsfamilie ausziehen musste, konnte Dinklage wegen seiner Kriegsverletzung und eines Unfalls seiner alten Mutter im Obergeschoss wohnen bleiben. Wegen seiner Sprachkenntnisse, aber auch wegen seiner Beziehungen zu englischen Persönlichkeiten entwickelte sich bald ein persönliches Verhältnis zu dem Einheitsführer Captain Hertalet, mit dem er laut Heinrich Schwarz in Vorkriegszeiten sogar zur See gefahren war. Vor allem aber wegen seiner Englischkenntnisse wurde er umgehend mit  Übersetzungsdiensten betraut. Da er mit den Briten unter einem Dach wohnte, war er denn auch immer sofort zur Stelle.


Dinklage gerät zwischen die Fronten

Nach der Entlassung Heinrich Schwarz´ wurde er auf Vorschlag Captains Hertalet von der britischen Militärregierung zum provisorischen Bürgermeister bestellt, ohne dass allerdings das Landratsamt in Ratzeburg informiert wurde. Seine Aufgabe bestand nun darin, die Anordnungen der Besatzungsmacht ins Deutsche zu übersetzen, bekannt zu geben und umzusetzen. Dabei geriet er als „Nicht-Einheimischer“ bei einigen Einwohnern in den Verdacht, als verlängerter Arm der Besatzungsmacht bei der Beschlagnahmung von Wohnraum und damit für den eigenen Vorteil zu agieren. Als nämlich der Quartiermacher der Militäreinheit auch noch das Nachbargebäude, nämlich das Haus des Kaufmanns Helmut Schulz räumen ließ, um dort Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften unterzubringen, sah er sich heftigen Vorwürfen des Kaufmanns ausgesetzt, der nicht nur seine Wohnung räumen musste, sondern nun auch noch seine Waren im Kaufhaus des Ferdinand Barnsen verkaufen musste. Währenddessen sollte  Dinklage nun auf Vorschlag Captain Hertalets sein Bürgermeisterbüro in dem Laden des Nachbarn aufschlagen. Auch als Dinklage diesem Vorschlag nicht folgen wollte und statt dessen ein an der Behlendorfer Schleuse liegendes Wohnboot nach Berkenthin holen ließ, um darin sein Amt einzurichten, ließ Nachbar Schulz nicht von seinen Vorwürfen ab,  er wolle sich an der Not anderer bereichern. Es kam zu schwersten verbalen Zusammenstößen, in die auch die Familien mit einbezogen wurden. Mit Blick auf die ehemalige Parteizugehörigkeit wurde Dinklage  von Schulz nun öffentlich sogar als „schlimmer Nazi und Gauleiter“ beschimpft. 


Die Entlassung und die Folgen

Nur wenige Wochen nach seiner Ernennung, nämlich mit Wirkung vom 15. Juni 1945 wurde Dinklage dann durch den Bezirksbürgermeister in Ratzeburg seines Amtes enthoben. In der Begründung hieß es, er sei unfähig, das Amt auszuführen. So habe er eingeforderte Berichte entweder gar nicht oder verspätet bei den vorgesetzten Stellen eingereicht. Dinklage weigerte sich zunächst, der Aufforderung nachzukommen, da er hinter der Amtsenthebung die Denunzierung durch seinen Nachbarn vermutete und er darauf verweisen konnte, dass er von der britischen Militärregierung eingesetzt worden sei. Schließlich musste er aber auf Weisung der Briten doch zurücktreten. Grundlage der Entlassung war nun eine Anordnung der Militärregierung, nach der alle Amtsträger ihres Amtes enthoben werden sollten, die bereits vor 1933 der NSDAP beigetreten waren. Während er selbst stets angegeben hatte, nach diesem Datum in die Partei eingetreten zu sein, konnte man ihm nun nach einem Überprüfungsverfahren nachweisen, dass das Eintrittsdatum der 1.2.1932 war. Allerdings hieß es auch jetzt wieder, dass nicht die politischen Gründe ausschlaggebend seien, sondern dass er nicht in der Lage gewesen sei, das Amt zu versehen.

Schwerwiegend war diese Entlassung für Max Dinklage besonders deshalb, weil damit die Sperrung sämtlicher Konten und Vermögenswerte verbunden war, was die Denazifizierungsrichtlinien für alle NS-Amtsträger vorsahen. Es begann eine jahrelange Auseinandersetzung zwischen Entlassenem und dem Landratsamt, während der er seine Verdienste während seiner kurzen Amtszeit für die Vertriebenen und die Gemeinde insgesamt herauszustellen suchte und sich trotz seiner Parteizugehörigkeit sogar in die Nähe der Hitler-Gegner und Attentäter rückte. Gleichzeitig brachte er seine internationalen Kontakte ins Spiel, die er zugunsten des Kreises geltend machen könne, sobald er erst wieder wirtschaftlich handlungsfähig sei. Schließlich im Juni 1949 wurde dann nach einem langen Rechtsstreit die Sperrung seiner Konten aufgehoben. Er war letztendlich durch sein Entnazifizierungsverfahren nach dem „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ entlastet worden.

Büro auf einem Boot

Als Nachfolger Dinklages wurde mit Wirkung vom 15.6.1945 ausgerechnet der Kaufmann Helmut Schulz eingesetzt. Die Ernennung erfolgte wiederum von dem Bezirksbürgermeister im Auftrag der Militärregierung. Schulz bezog zunächst wie sein Vorgänger das Bürgermeisterboot auf dem Elbe-Lübeck-Kanal, allerdings nur für kurze Zeit, denn schon wenig später zog Captain Hertalet´s Militäreinheit ab und wurde durch eine Panzereinheit abgelöst, die sich nun in Berkenthin einquartierte. Diese beschlagnahmte das Boot für eigene Zwecke, so dass der provisorische Bürgermeister nun von seiner Wohnung neben dem Laden in der Ratzeburger Straße seine Amtsgeschäfte führen musste. Immerhin war sein Haus nach dem Abzug der ersten Militäreinheit wieder frei. Schulz bezeichnete sich in einem Schreiben an den Landrat als den „größten Antifaschisten und Märtyrer“ Berkenthins, denn er hatte tatsächlich während der Nazi-Herrschaft wegen seiner Gesinnung in Gestapo-Haft gesessen.


Schwierige Aufgaben

Auch nach seinem Amtsantritt machte er aus seiner Auffassung, dass ehemalige Nationalsozialisten einer gerechten Strafe zugeführt werden müssten, kein Hehl. Auch forderte er ein Jahr später angesichts der ersten anstehenden Gemeindewahl, dass ehemalige Parteimitglieder nicht als Kandidaten an dieser Wahl teilnehmen dürften. Oder er protestierte öffentlich dagegen, dass entgegen der alliierten Bestimmung im Sägewerk Rave derselbe Betriebsobmann kandidieren durfte, der „zwölf Jahre das Hoch auf den Führer ausbrachte.“ Es wundert nicht, dass ihn diese Haltung, aber auch sein zuweilen energisches Auftreten die Gegnerschaft eines Teils der einheimischen Bevölkerung einbrachte, während er sich konsequent um eine gerechte Zuteilung von Wohnraum kümmerte.

Ein typischer Konflikt jener Jahre, der für viele andere steht, entspann sich u.a. mit dem Lehrer G. der hiesigen Schule, der auf Schulz´ Veranlassung am 1.8. 1946 wegen seiner Parteizugehörigkeit seine Wohnung in der Schule räumen musste und dem stattdessen ein kleines Zimmer in Kählstorf zugewiesen wurde. Der Bürgermeister konnte sich dabei auf das Gesetz 52 der Militärregierung berufen, nach dem ehemalige Anhänger der NSDAP, die aus ihrem Beruf entlassen wurden, nicht mehr im Besitz eines Wohnzimmers sein durften. Deren Wohnzimmer sollten im Interesse der besseren Flüchtlingsunterbringung in Anspruch genommen werden. Der Lehrer erschien daraufhin im Büro des Bürgermeisters, um dagegen Widerspruch  einzulegen, woraufhin sich ein heftiger Wortwechsel entspann, der den Lehrer zu einer Beschwerde beim Landrat veranlasste. Der Bürgermeister rechtfertige sein Verhalten damit, dass es sich bei dem Lehrer um einen „200-prozentigen Nazi“ handele.

Sehnsucht nach dem Alltag

Nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren war das Bedürfnis  nach einem geregelten Alltag groß. In erster Linie ging es auch weiterhin um die Behebung der Flüchtlingsnot und die Versorgung mit allem Lebensnotwenigen. Erste Umsiedlungsmaßnahmen in den industrialisierten Westen und Südwesten Deutschlands führten zu einer ersten Entspannung der Wohnsituation. Der Schulunterricht wurde wieder aufgenommen, wenn auch, wie beschrieben, unter großen Schwierigkeiten. Bis zum April 1947 wurde die nächtliche Ausgangssperre aufgehoben. In Folge gab es dann auf allen Sälen eine bunte Reihe von Tanzveranstaltungen und Vergnügungen aller Art.  Der Ort war voller junger Leute, hinter ihnen lag eine lange Zeit der Entbehrungen! Auch galten die  Fahrverbote nicht mehr und beschlagnahmte Fahrzeuge wurden zurückgegeben, wenn auch nicht in allen Fällen. Einige Berkenthiner hatten zuvor ihre Autos vor den Engländern versteckt oder einfach die Räder abgebaut. Sogar das alte Feuerwehrauto war zeitweise von den Feuerwehrkameraden unter Stroh in der alten Feldscheune am Ortsausgang in Richtung Ratzeburg versteckt worden, weil man befürchten musste, dass das Fahrzeug beschlagnahmt würde. Gewissermaßen tragisch erging es dem Landwirt Otto Burmeister aus Klein Berkenthin, der eines der wenigen PKWs im Ort besaß. Auch er hatte die Räder seines Gefährts abmontiert und im Heu versteckt. Somit hatten die Alliierten das Interesse an dem Auto verloren. Ottos Fehler war leider, dass er das Auto zu früh wieder flott gemacht hatte, um nach Lübeck zu fahren. Dabei wurde er wohl von einigen Uniformierten gesehen. Stunden später standen sie auf dem Hof und konfiszierten jetzt doch seinen geliebten Wagen.

Nun aber wurden Bus- und Bahnverbindungen wieder eröffnet und die Post und Telegraphenverbindungen funktionierten wieder. Einen großen Schritt in wirtschaftliche Wiederbelebung stellten dann die Währungsreform und die Einführung der DM im Jahre 1948 dar. Bauunternehmer Heinrich Schwarz stellte dazu in seinen Erinnerungen fest: „Nach der Durchführung der Währungsreform erhielt jeder Bewohner (…) 40,- DM, womit er sich vorläufig einrichten musste. Mit der Einführung der DM belebte sich auch schnellstens die Wirtschaft, alle Waren gab es in rauen Mengen und es begann (…) das große Wirtschaftswunder. Die Bautätigkeit lebte auf (…) und somit begann sich auch mein Baugeschäft mit dem Kohlenhandel zu beleben.“


Übergabe der politischen Selbstverwaltung

Die britische Militärregierung bemühte sich frühzeitig um eine Demokratisierung „von unten“ und ermöglichte schon ab August 1945 die weitgehende Selbstverwaltung sowie Neugründungen der Parteien auf Ort- und Kreisebene. Ein noch von der Militärregierung eingesetzter Kreistag wurde auf einer konstituierenden Sitzung am 14. Januar 1946 eröffnet, in der Militärgouverneur Clarke ein eindringliches Plädoyer für einen grundlegenden politischen Neuaufbau im Kreis hielt. Diesem ersten Kreistag gehörten Mitglieder der CDU, der SPD und der KPD an. Vertreter Berkenthins war der Landwirt Karl Meyne aus Groß Berkenthin, der aber nach der ersten demokratischen Kreiswahl am 15.09.1946 dem Gremium nicht mehr angehörte. Berkenthin war dann erst nach 1948 wieder durch den Sozialdemokraten K. Rompe aus Klein-Berkenthin vertreten. Bereits im Frühjahr 1946 wurden im Ort die Grundzüge einer neuen Gemeindewahl im Hause des Bürgermeisters Schwarz zur Einsicht ausgelegt. Die erste Gemeindewahl, die durch die Vorgaben der Militärregierung geprägt war, fand dann, wie wir gelesen haben, „friedlich und in völliger Ruhe“ am 19. September d. J. statt. Die CDU erhielt 6, die SPD  5 Sitze in der Gemeindevertretung, außerdem wurde ein Parteiloser  gewählt. Heinrich Schwarz ließ sich danach „auf Drängen der Gemeindemitglieder“, wie er in seinen Erinnerungen schrieb, noch einmal zum Bürgermeister wählen. Er blieb es bis 1951. Bei der dritten Kommunalwahl am 29. April 1951 wurden 5 Vertreter einer Liste „Deutsche Sammlung“, 5 Vertreter des „Bundes der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ und ein Vertreter der SPD gewählt. Heinrich Schwarz schreibt dazu, dass er trotz seines hohen Stimmenanteils das Bürgermeisteramt jetzt dem Landwirt Hugo Rath überließ. Das Amt habe derart viele weitere Verpflichtungen nach sich gezogen, die er wegen der Arbeit in seinem Betrieb nicht mehr habe wahrnehmen können. 1943 war er umgekehrt der Nachfolger Hugo Rath´s geworden, nachdem dieser zum Kriegsdienst einberufen worden war. 1951 ließ sich Schwarz aber in den Kreistag wählen, dem er bis in die 60er Jahre angehörte.

Amtsarchiv Berkenthin: „Anschläge“ ,Gemeindevertretungen -Protokolle

Kreisarchiv Herzogtum Lauenburg Abt. KA.1 Nr. 6312 

Kirchenchronik Berkenthin

Unveröffentlichte Lebenserinnerungen Heinrich Schwarz´

Kreistagsprotokolle https://www.kreis-rz.de/Politik-und-Verwaltung/Kreistag/index.php?La=1&object=tx,327.8019.1&kat=&kuo=2&sub=0

E. Opitz, Herzogum Lauenburg